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 Der Kuss des Meeres

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Victoria Collister
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BeitragThema: Der Kuss des Meeres   Der Kuss des Meeres Icon_minitime126.09.12 18:42


Unablässig spielte der Wind mit ihrem naturgrünen, wehenden Haar.
Gedankenverloren blickte die junge Frau in die weiten Tiefen der tosenden Wellen, während ihre schmalen Lippen sich unmerklich lila verfärbten.
Unnatürlich. So wurde sie hinter ihrem eigenen Rücken bezeichnet.
Als unnatürlich und… anders. Verächtlich spuckten die Bewohner jene Worte in ihr blasses Gesicht.
Nein, das hätten sie sich niemals getraut, denn dafür waren sie viel zu feige -
allein hinter ihrem Rücken fanden all die Lästereien statt.
Es waren vor allem die unnatürlich blauen Augen, welche sie kennzeichneten - vor denen die Menschen furchtsam zurückwichen, und daher nie mehr als einen flüchtigen Blick riskierten.
Kalt und trostlos. Grünlich schimmernd. Ein Blau, so tief wie die See.
Munkelten sie.

***

Sie war aufgebrochen, als die letzten Hütten endgültig von der Finsternis verschluckt waren und sich die Schwärze wie ein gewaltiger, eiserner Mantel um die schlafenden Körper gewickelt hatte.
Sie brauchte kein Licht, um sehen zu können. Wie Saphire blitzten ihre Augen durch die Gegend, schienen ertasten zu wollen. Und dann war sie angekommen. Sie hatte sich verstohlen davongeschlichen – grazil und leise, hatte den höchsten Felsen erklommen, auf den spärliches Licht fiel, das aus dem Nichts gezeugt wurde, wie ihr schien.

Wie sehr sehnte sie sich nach einem Gefühl von Wärme. Zuneigung sollte ihre Gedanken durchströmen – Liebe sollte die Luft erfüllen. Sie wollte jemanden an ihrer Seite haben, jemanden an ihrer Seite wissen, der sie ihr Leben lang begleiten – und sie allzeit verstehen würde. Sie wollte Geborgenheit kennenlernen - Lippen auf den ihren spüren.

Es war untersagt, sich in den Tod zu stürzen.
Es war verboten, etwas anderes als einen Menschen zu lieben.
Es war verboten, anders zu sein.

***

Der heftige Küstenwind, der ihr langes Haar in alle Richtungen durcheinander gewirbelt hatte, schien nachzulassen. Anmutig sprang sie. Stürzte sich in die rasende Flut.
Das Meer war das Einzige, das ihr glich. Es schien sie zu liebkosen. Es war kalt. Eiskalt. Und doch waren es keine tausende Nadeln, die sich in ihr Herz bohrten. Das Wasser umschmiegte den blassen Körper, suchte ihre Lippen. Klar und salzig. Warm. Sie war ein Mensch, kein Wasserwesen, und doch war sie hierfür bestimmt. Ein seliges Lächeln trat in das nasse, unterkühlte Gesicht. Denn zum ersten Mal empfand sie so etwas wie Liebe.


***
Offene Augen, dunkel wie ein Leben gleich Verrat - und doch so hell wie gebührende Erlösung, waren starr an die Himmelsdecke gerichtet.

„Und noch heute sieht man eine Wasserleiche durch die Meere um her schwimmen - sie war jene, die das Meer geküsst hat“, erzählte mir Opa einst die Geschichte.
Und heute frage ich mich, ob Großmutter nie den sehnsüchtigen, unerklärlichen Blick in seinen Augen erhascht hatte, wenn er die See erblickte.

~*~
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